Bursareliquiar aus Ennabeuren
Das Bursareliquiar von Ennabeuren, Zeugnis der Christianisierung im alemannischen Raum, besitzt zahlreiche Merkmale, die auf keltischen, mithin auf iroschottischen Hintergrund verweisen. Offensichtlich gehörte das Taschenreliquiar zum Sakralgut von Wandermönchen. Hierfür liefert das Vorhandensein von Ösen, wie die linksseitig noch erhaltene, ein Indiz. Denn mittels eines Riemen oder Bandes gestatteten diese, das Reliquienkästchen, wie einen Brustbeutel – das lateinische „bursa“ bedeutet Tasche, Täschchen, Beutel – um den Hals zu tragen. Hinzu kommt die allgemein akzeptierte Datierung des Reliquiars ins 7. Jahrhundert, in die Epoche des Auftretens irischer Glaubensboten auf dem europäischen Kontinent.
Das Bursareliquiar besteht aus einem von unten her durch einen rechteckigen Schacht zu bestückenden, vollständig von feuervergoldeten Bronzeblechen umkleideten Lindenholzkästchen. Für die Verkleidung wurden acht entsprechend zugeschnittene und präparierte Bronzebleche verwendet, die mit kleinen Bronzenieten und -nägelchen befestigt sind. Die Bleche weisen durchgehend reiche Verzierung auf. Die Gestaltung erfolgte, von der Rückseite der Bleche vorgenommen, mittels Durchpressung von gegossenen Bronzestempeln oder von geschnittenen Hartholzpunzen, der Technik der Herstellung von Brakteaten vergleichbar. Eine frühere Vermutung, dass Fibelmodel alemannischer Provenienz Abpressung gefunden hätten, muss angesichts des konstatierten Fehlens von Vergleichsbeispielen innerhalb der Zeugnisse alemannischer Ornamentik als fragwürdig erscheinen. Tatsächlich lassen sich die Motive des Bursareliquiars schlüssiger keltischer Bildwelt und Symbolik zuordnen.
Die beiden oberen Bleche der Vorder-und Rückseite eint und umfängt ein separat gearbeiteter Abschluss in der Art eines Dachfirstes. Das Blech dieser (später angebrachten?) Bekrönung wurde aufgespalten und umklammert überlappend die beiden oberen Bleche von Vorder- und Rückseite. Oberhalb eines Perlrandes zeigt es in flacher, figürlicher Ausarbeitung in frontaler Stellung die Halbfigur eines Menschen mit abgespreizten Armen, Händen und Fingern verbunden mit zwei in Seitenansicht ausgeführten Tieren. Während auf der Vorderseite durch Umrissritzung und Binnenzeichnung wie derjenigen von Mund und Nase beim Menschen und der Augen bei allen wiedergegebenen Lebewesen die Figuration markant konturiert und ausgearbeitet ist, begnügt sich die Rückseite mit dem bloßen Schattenbild der Mensch-Tier-Komposition. Die Einfassung des Kopfes der Menschengestalt könnte einen Nimbus meinen. Bei den geschwänzten Tieren handelt es sich augenscheinlich links um einen Paarhufer mit Gehörn, vielleicht als Hirsch anzusehen, während das rechte, wenn nicht von der gleichen Art, dann vielleicht der fehlenden Hörner wegen als Eber (Löwe?) zu deuten wäre. Sowohl Hirsch als auch Eber verkörpern keltische Gottheiten. Die Menschengestalt erscheint als eine, die diese abdrängt, verdrängt, beiseite hält. In der Vorderseite der Umkleidung ist außerdem eine blaue Glasperle gefasst.
Das Bursareliquiar von Ennabeuren, dessen Zeichensprache noch der Dechiffrierung harrt, muss als ein Schlüsselwerk der Übertragung von christlichen Bedeutungen auf keltische Symbolik betrachtet werden. In der evangelisch gewordenen Kirche St. Cosmas und Damian von Ennabeuren, eingemeindet in Heroldstatt im heutigen Alb-Donau-Kreis, war das Reliquiar im Sepulcrum des Altars geborgen worden. Das Reliquiar wurde zur Weihe ihres Gotteshauses der katholischen Pfarrei von der evangelischen Kirchengemeinde im Jahre 1936 übereignet. Damals sei es mündlicher Nachricht zufolge noch mit Reliquien versehen gewesen. Auszugehen ist von einer iroschottisch geprägten Wandermönchsgruppe als Vorbesitzern wie beispielsweise derjenigen von Eustasius (+ 629) und Agilus (+ um 650), Schülern und Mönchen aus dem Kreis um Columban (+ 614), die von der Columban-Gründung Luxeuil in den Vogesen kommend nach 610 das Kloster Weltenburg an der Donau gegründet haben. Der Donaulinie als Wander- und Orientierungsroute folgend mussten solche Mönchspilger zwangsläufig das Donautal bei Ulm passieren. Hier könnte das Reliquiar bei der Stiftung einer christlichen Stätte zurückgelassen worden sein und erst in der Phase des Ausbaus der kirchlichen Verhältnisse und der Errichtung des Kirchenbaus von Ennabeuren im späteren Mittelalter dürfte es an den Ort auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb gelangt sein.
Innerhalb der bekannten Bursareliquiare, die sich häufig durch besondere Kostbarkeit auszeichnen, gehört es zweifellos zu den ältesten der erhaltenen und bekannten.
Wolfgang Urban
Diözesanmuseum Rottenburg (Dauerleihgabe Pfarrei „Mutter Maria“ Ennabeuren, Dek. Ulm)
Iroschottisch (alemannisch?)
7. Jahrhundert
Bronzeblech vergoldet, punziert; Glasperle; im Innern: Lindenholzkästchen
H 8,9 cm x L 8,6 cm x B 5,6 cm
Bis 2. Februar 2006 zu sehen in der Ausstellung „Scoti Peregrini in St. Jakob. 800 Jahre irisch-schottische Kultur in Regensburg“ im ehemaligen Schottenkloster St. Jakob
Ausführliche Beschreibung des Bursareliquiars von Ennabeuren im Begleitkatalog der Ausstellung (ISBN 3-7954-1775-9)