Wundmale Jesu
Ruth Lynen (*1945)
Fünf grobe Holztafeln in einer Reihe, wie mahnende Totenbretter sprechen sie von vergangenem Schicksal. Die Tafeln stehen für fünf Stationen auf dem Kreuzweg Christi. Außer dem letzten sind alle Bretter unten gerade, oben schief und kantig geschnitten, die unruhigen Längsseiten aber blieben naturbelassen. Die gerade Basis ist Richtschnur für die Formausschläge nach oben und nach den Seiten.
Ein durchgehendes Weiß dient als tragender Grund. Darauf sprechen blutiges Rot, Grau und Schwarz eine deutliche Sprache, auch wenn die Themen nur spurhaft angedeutet sind. Auf der ersten Tafel wächst transparentes Grau aus dem Holz und formiert sich schemenhaft zum Oval eines Gesichts. Das Weiß verliert sich dort wie ein klebrig nasses Tuch auf der Haut. Rote Farbspuren erinnern an verschmiertes Blut. Es ist ein Bild vom Haupt des blutschwitzenden Heilands. Die zweite Tafel ist wie von Geißelhieben malträtiert, das Weiß ist schrundig aufgeworfen, die blutigen Striemen gehen unter die Haut, tief ins Holz. Grausam tief sticht der Dorn auf dem dritten Bild ins blanke glatte Weiß. Die Holztafel ist zerborsten, Blut und Schwärze füllen den klaffenden Spalt. Es ist die Dornenkrone. Die dritte Tafel ist schlank und im Umriss leicht gebogen. Durch die Mitte verläuft eine eingekerbte, bräunliche Linie, wie der Jahresringkern wettergebeugter Stämme. Alle späteren Jahresringe sind eingetaucht in das Weiß, nur die Kernlinie zieht sich hindurch wie ein schlingernder Fußpfad. Ihm entlang zeugen schwache Blutspuren von einem Leidensweg. An einer Stelle dieses Weges verdichtet sich das Rot in einem nervösen Flächenknäuel mit bläulich unterlaufenen Rändern. Eine offene Scheuerwunde von der drückenden Last des Kreuzes. In der fünften Tafel schließlich beruhigt sich die Außenform zum regelmäßigen Rechteck, das Weiß ist innerlich aufgewühlt, aber in der Oberfläche geglättet. Um so mehr schmerzt die jähe Durchstoßung. Sie reißt ein offenes Loch in das kräftige Holz, kreuzförmig und mit aufgesplitterten Rändern. Blut fließt aus diesem klaffenden Wundmal. Gemeint ist die Seitenwunde des Gekreuzigten. Fünf Stationen des Kreuzwegs, fünf Bilder von schrecklichen Wunden in unschuldigem Weiß.
"Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt." (Is. 53,5)
Regensburg, 1992
Holz, Spachtelmasse, Ölfarben
H 67, B 40 (5 Tafeln)
Neuankauf Museum St. Ulrich