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Das verhüllte Kreuz
Rudolf Koller (*1942)

Rudolf Koller Das verhüllte Kreuz

Das Verhüllen des Besonderen ist ein uraltes Motiv der kultischen Gottesverehrung. Es schafft eine zweite, höhere Daseinsebene in der Wahrnehmungswelt der Menschen, einen abgeschirmten Bereich, der sich nur dem öffnet, der sich selbst zu öffnen bereit und imstande ist. Die Götterbilder in den griechischen Tempeln bekamen nur wenige Eingeweihte zu Gesicht.

Christliche Reliquien wurden in prächtigen Schreinen verborgen, jeder Altar mit dem Tabernakel ist im Grunde ein solcher Schrein, und bis heute umhüllt den Ziboriumskelch mit den geweihten Hostien ein kunstvolles Stoffvelum.
Ein großes Tuch verhüllt auch unseren Christus am Kreuz. Die Kreuzbalken sind auffallend dünn und auf ihre bloße Zeichenhaftigkeit reduziert. Hier geht es vorrangig um den Christuscorpus, um das sensible Wechselspiel zwischen Verhüllen und Durchscheinen der Körpergestalt, ein Wechselspiel mit sehr viel Deutungsspielraum. Schließlich kann das große quadratische Tuch Mehrfaches bedeuten, ein Verhüllen des Heiligen, ein beschirmendes Zudecken des Verletzlichen, ein Abdecken des Toten. Zwischen diesen Polen bewegt sich das verhüllte Kreuz. Da gibt es Bereiche, in denen das Tuch teigig und schwer den Körper vereinnahmt, die Fußenden und nahezu die ganzen Arme erscheinen wie im Amorphen gefangen. Zur Körpermitte hin nimmt Christus jedoch zunehmend Gestalt an, als würde der Leib aus den Wogen des Tuches emportauchen. Nun verliert der Stoff seine Schwere und verästelt sich in kleine Faltenrinnsale, die wie Wasser abfließen. Auf den Höhen liegt das nun hauchdünn erscheinende Tuch wie nass auf blanker Haut und lässt einen weich modellierten schönen Körper durchspüren, der beileibe nicht tot wirkt. Die Verhüllung birgt vielmehr aufkeimendes und spürbar sich entwickelndes Leben, unter dem Leichentuch pulsiert die Hoffnung der Auferstehung. Nicht von ungefähr weckt das aufgespannte Tuch mit dem verhüllten Leib die Vorstellung von einem Schmetterling bei der Befreiung aus seinem Kokon, auch dies ein uraltes Auferstehungssymbol. Aus dem Todesmantel würden somit befreiende Flügel. (FF)

Regensburg, 1981
Bronzeguss
H 200 cm, B 85 cm
(Inv.-Nr.: 1982/14)

zu sehen im Museum St. Ulrich