Stiller Abtrag
Sybille Loew (*1960)
Anfang 2003 betrat Anne Gebhard, eine kleine, zerbrechliche alte Dame, die ärmlich gekleidet war und unsicher, ja geradezu ängstlich wirkte, die Beratungsstelle... Im Gespräch erzählte sie, dass sie nach einer entwürdigenden Behandlung in einem Amt dieses Amt gemieden und seit zwei Jahren keine Post mehr geöffnet hatte. Als der Absender eines kürzlich zugestellten Briefes das Amtsgericht war, hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen und die Beratung aufgesucht. Im Verlauf etlicher Begegnungen öffnete ich als ihre Beraterin zusammen mit ihr Berge von Post.
Es musste fast alles neu geregelt werden, was es rund um einen Menschen an „Ämterkram“ zu regeln gibt. Lediglich die Sozialhilfezahlungen hatte sie regelmäßig bekommen. Da sie ihre Post nicht mehr geöffnet hatte, verpasste sie Folgeanträge und stand kurz vor der Zwangsräumung, war nicht mehr krankenversichert und hatte Schulden bei den Stadtwerken.
Doch die Gespräche standen nicht nur im Zeichen behördlicher Angelegenheiten.
Vielmehr faszinierte mich diese Frau von der ersten Begegnung an. Ein ungeheurer Kontrast lag in ihrem ärmlichen Erscheinungsbild und ihrer gewählten Ausdrucksweise. Bei den Begegnungen mit ihr war es wunderbar, ihr zuzuhören und bei ihren anschaulichen Schilderungen Stationen
ihres Lebens vorbeiziehen zu sehen. Sie hatte als freiberufliche Fahrlehrerin gearbeitet. Wegen einer massiven Verschuldung seines Dentallabors nahm sich ihr Mann das Leben. So musste sie allein für sich und ihre Tochter sorgen und die Schulden ihres Mannes begleichen. Da blieb kein Geld für die eigene Rentenversicherung, sodass sie mit Erreichen des Rentenalters zur Sozialhilfeempfängerin wurde. Ihre Tochter hatte sich mit der Volljährigkeit völlig von ihr distanziert, da sie ihr die Schuld am Tod des Vaters gab. Die Mutter wusste nur, dass ihr einziges Kind in Amerika lebte. Frau Gebhard musste aus Geldnot ihre Wohnung auflösen und in eine Sozialwohnung in einem anderen Stadtteil ziehen. Sie verlor dadurch die noch verbliebenen Sozialkontakte. Angehörige gab es nicht. Dennoch erschloss sie sich auch in ihrer neuen Umgebung rasch einige nachbarschaftliche Kontakte.
Bei jedem Besuch in der Beratungsstelle brachte Frau Gebhard eine Aufmerksamkeit mit, ein Büschel selbst gepflückten Bärlauch oder einen Apfel. Es war ihr sehr wichtig, mir ein kleines Zeichen des Dankes für die Unterstützung zu geben. Eines Tages kramte sie zu Beginn des Gesprächs umständlich ein winziges in Alufolie gewickeltes Blumensträußchen aus Gänseblümchen und Hahnenfuß aus ihrer Tasche. Sie schenkte es mir mit Worten des Dankes. Dann holte sie noch ein Sträußchen hervor, gab es mir und sagte „Das dürfen Sie mir überreichen, heute ist nämlich mein siebzigster Geburtstag“. Erst stand ich sprachlos da und merkte, dass mir Tränen in die Augen traten. Diese Mischung aus der spürbaren Einsamkeit dieser Frau und aus ihrer Kreativität, für sich selbst zu sorgen, berührte mich sehr. Ich kochte Kaffee, holte Kuchen, entzündete eine Kerze, und so feierten wir in der Beratungsstelle ihren Geburtstag.
Noch einige Male besuchte Frau Gebhard die Beratungsstelle, dann kam sie nicht mehr. Erst machte ich mir keine Gedanken, die Abstände zwischen ihren Besuchen waren immer groß gewesen. Irgendwann wunderte ich mich doch. Einen Telefonanschluss hatte sie nicht, auf eine Postkarte erhielt ich keine Antwort. Über das Sozialbürgerhaus erfuhr ich, dass sie am 30.1.2004 gestorben war.
Pro Jahr stirbt in München fast jeden Tag ein Mensch, ohne Angehörige zu hinterlassen, die seine letzten Angelegenheiten regeln. Die Polizei und die Stadtverwaltung versuchen anhand gefundener Unterlagen, den letzten Willen des Verstorbenen zu ermitteln. Der tote Körper wird nach der Klärung der Todesursache in einem blauen Plastiksack unbekleidet in einen sargähnlichen Karton gelegt. Wenn nicht der Wunsch nach einer Erdbestattung erkennbar ist, wird der Leichnam verbrannt und meist in den frühen Morgenstunden nach dem Abspielen eines Liedes in der Aussegnungshalle als namenlose Urne in einer vergitterten Sammelurnennische im Keller des Krematoriums beigesetzt.
Die Wohnung wird durch ein Entsorgungsunternehmen geleert. Die Dinge, mit denen der Verstorbene ein Leben lang gelebt hat, landen bei Nachlasssammlern oder im Sperrmüll. Innerhalb von zwei bis vier Wochen ist jeder dieser Vorgänge abgeschlossen.
Ich hatte diese kleine, zerbrechliche Dame lieb gewonnen, und ihr Leben und ihr Sterben bewegten mich weiterhin, auch weil ich bald darauf ähnliche Todesfälle erlebte. Es war unbegreiflich für mich, dass Menschen 70 oder 80 Jahre gelebt hatten, verstarben und von dieser Welt verschwanden, ohne Spuren zu hinterlassen. Dass niemand sich ihres Lachens, ihrer Meinungen, ihrer Gesten erinnern würde, niemand ab und zu denken würde: „Ach, meine Großmutter hätte jetzt das und das dazu gesagt!“
Einige der Verstorbenen sind Migranten, wie die Namen unschwer erkennen lassen. Da ist ein 30-jähriger, der vermutlich aus Nordafrika stammte, der vielleicht eine waghalsige Flucht über das Mittelmeer hinter sich hatte, dessen Familie im Heimatland hoffte, dass wenigstens einer von Ihnen eine Perspektive haben sollte. Da sind ein 46-jähriger promovierter Mann, eine 40jährige Frau, einige wenige wohnungslose Menschen, die meisten aber gut bürgerlich. Sie alle lebten ihr Leben, hatten Schicksalsschläge zu meistern, starben einsam. Sie alle haben niemanden, der die Erinnerung an sie bewahrt.
So wuchs in mir die Idee, das „spurlose“ Sterben von Menschen in unserer Gesellschaft gestalterisch zu bearbeiten. Im Zeitraum von eineinhalb Jahren nähte und bestickte ich 289 Stoffschilder mit dem Namen, dem Todesdatum und dem Alter der Menschen, die im Laufe des Jahres 2005 in München auf diese Weise gestorben waren. Ihre Namen werden regelmäßig in einer Sammeltodesanzeige der Stadt veröffentlicht, um Angehörige zu ermitteln.
„Rund 800.000 Menschen sterben jährlich in Deutschland. Allein in Berlin sind es 35.000 bis 40.000, jeder zweite davon wird in einem anonymen Urnenbegräbnis beigesetzt. „Stiller Abtrag“ heißt im Bestatterjargon eine Beisetzung ohne Feier. Das sang- und klanglose Verschwindenlassen der Toten ist an der Tagesordnung. Es ist die logische Fortsetzung ihres sozialen Todes, den Alte, Kranke und Überflüssige schon zu Lebzeiten erleiden müssen, also dann, wenn sie noch mitten unter uns sind...“ So beschreibt Gabriele Göttle in der taz vom 27. März 2006 das Ableben dieser Menschen.
Während der Arbeit des Stickens, aber auch für den Betrachter dieser Objekte, würdigt die gestickte Fadenspur für einen flüchtigen Moment das einsame Sterben dieser Menschen. Sie lädt ein zum stillen Gedenken an Anne Gebhard und all die anderen.
Sibylle Loew
Sybille Loew, geboren 1960, ist katholische Theologin, Kunsttherapeutin und Leiterin einer Beratungsstelle. Seit 1980 arbeitet sie als Künstlerin und ist seither an zahlreichen Ausstellungen beteiligt, so 2003 Eva und ihre Kinder, Arte-GalerieN, München, 2004 Einwanderung, Galerie Kunstraum Sutter-Kress, Erlangen (EA), 2007 zum Sterben schön, White Box, Kunstpark Ost, München, 2008 I´art textile, Musee de la Chemiserie, Paris. Sie lebt und arbeitet in München.
Gedenkinstallation „Stiller Abtrag“
289 bestickte und genähte Stoffschilder
2006
je H 6 cm x B 20 cm
zu sehen noch bis 12. Dezember in der Ausstellung „In Richtung Paradies“ – Über den Tod im Bilde im Museum Obermünster