Die halbe Wahrheit
Stefan Demming (geb. 1973)
Die Arbeit dieses jungen Künstlers, 1973 geboren, stammt aus einer Werkgruppe mit dem Titel "Die halbe Wahrheit" und hat ihren Ursprung in seinem Video-Kurzfilm „Frozen moments“ aus dem Jahr 2002. In einer Kirche stehen Personen verschiedener Generationen nebeneinander, ein Mann hält ein Kind in einem Taufkleid auf dem Arm. Alle schauen in dieselbe Richtung und lächeln.
Es ist der Moment des Familienfestes, an dem der eigentliche Akt, die Taufe, bereits vollzogen ist und eine zweite rituelle Handlung, eine säkulare Liturgie stattfindet: Ein Fotograf lichtet die Mitglieder der Gruppe in verschiedenen Konstellationen und Perspektiven ab. Minutenlang schießt er mit Blitzlicht ein Foto nach dem anderen, während sich die Taufgäste in Positur werfen. In seinem Video hat Demming die Familienfest-Szene so aneinander geschnitten, dass nur die Momente der jeweiligen Blitzlichter zu sehen sind – ein permanentes Blitzlichtgewitter, das der Szene etwas Irritierendes, Zersetzendes verleiht. Die hier gezeigte Arbeit ist ein stark heran gezoomter Still jenes Videos, als Digitalprint großformatig auf eine Aluminiumplatte aufgebracht. Zu sehen ist als Ausschnitt eine einzelne Frau aus der Gästeschar.
Die Wahrnehmung des eigentlichen Bildmotivs ist in der extremen Vergrösserung aus der Nähe schwierig. Erst aus der Ferne betrachtet, ist das Gesicht zu erkennen. Bei längerem Betrachten beginnt aber das Abgebildete zu flirren. Es ergibt sich so etwas wie eine Unsicherheit des Sehens, eine Dynamik, die Stefan Deming „Verschwindigkeit“ nennt. Die horizontalen Streifen entstehen aus der Eigenschaft des Mediums „Video“. Denn Videobilder bauen sich als Halbbilder 50mal pro Sekunde neu auf, wobei gerade und ungerade Bildzeilen einander folgen. Ein Video-Still zeigt also gewissermaßen nur die halbe Wahrhheit. Der Blitz des Fotografen ist so schnell, dass er nur auf einem der Videohalbbilder – zu erkennen an den reflektierenden Brillengläsern der Frau – erkennbar wird.
Demmings Arbeiten ziehen die Potenz, „wahre“ Realität abbilden zu können, in Zweifel. Es werden in einem Bild zwei ungleichzeitige Momente aufgezeichnet. Demming thematisiert in seinen Arbeiten die verschiedenen Ebenen von Betrachter und Betrachtetem, Bildraum und Realraum, Original und Reproduktion sowie einen Mediensprung von der Fotographie zur digitalen Filmaufzeichnung. Mit der Übertragung des Fotografierens ins digitale Videoformat und letztlich wieder zurück zu den großformatigen Prints gelingt es Stefan Demming, Unsichtbares sichtbar zu machen.
Demming verfällt bei aller erkenntniskritischen Brisanz seiner Arbeit nicht in Kulturpessimismus oder gar totalen Relativismus. Die Einsicht, dass es uns trotz oder gerade wegen der immer ausgefeilteren Dokumentations-Möglichkeiten des digitalen Zeitalters immer weniger gelingt, Wahrheiten von Schein-Wahrheiten zu unterscheiden, löst bei Demming eine spürbar heitere Gelassenheit aus. Wenn man sich nicht selbst unter den Druck setzt, Pseudowahrheiten als leeres Lebens-Korsett reproduzieren zu müssen, wenn man sich vielmehr von der Hoffnung tragen lässt, dass es eine trans-zendente Dimension existentieller Wahrheit gibt, in der sich alle Gegensätze auflösen – Coincidentia oppositorum, wie Nicolaus Cusanus es nennt – dann darf man in der Tat voll heiterer Gelassenheit sein. Das ist Stefan Demmings persönliche Erfahrung von Über-Stieg.
Dr. Jakob Johannes Koch
Die halbe Wahrheit
2004, Digitalprint auf Aludibond
80 x 100 cm
zu sehen in der Ausstellungvom 27. April bis 10. Juni im Museum St. Ulrich