Der Bildtitel heißt: „Rühre mich nicht an!“. Es ist eine monumentale Bleistiftzeichnung, von Paul Schinner, einem Bildhauer aus Nabburg in der nördlichen Oberpfalz.
„Rühre mich nicht an!“ - Die meisten kennen die zugehörige biblische Geschichte, bekannt auch unter der lateinischen Spruchversion: „Noli me tangere“.
„Du sollst mich nicht anfassen!“ - So sprach Christus zu Maria Magdalena am Ostermorgen im Garten Getsemane.
Christus wollte noch eine Weile unerkannt bleiben und gab sich als Gärtner aus. Zu unsicher war er sich noch angesichts seiner in der Auferstehung neu zurückgewonnenen körperlichen Lebendigkeit. In der biblischen Geschichte legt sich diese Berührungsangst bald. Wenig später wird Christus zum Apostel Thomas sogar sagen: „Fass mich ruhig an, wenn du nicht glaubst!“
Schinners Zeichnung bezieht sich aber nicht allein auf die biblische Geschichte. Diese ist Aufhänger für etwas, das uns, den im 21. Jahrhundert lebenden Menschen, recht gut bekannt ist. „Rühre mich nicht an!“- heißt ja auch: Lass mich in Ruhe! Bleib weg von mir! – oder sogar: „Ich will mit dir nichts zu tun haben!“
So könnte man sagen: Diese Zeichnung ist auch ein mahnendes Bild für die zunehmende Selbst-Verklausulierung des Einzelnen in unserer modernen Gesellschaft, von der es oft heißt, sie sei von zunehmender sozialer Kälte geprägt.
In Schinners Zeichnung geht es also auch um Berührungsängste, um Rückzug, um das Sich Abschotten nach außen, um das Einschließen in sich selbst. Ausdruck für eine offenbar bestehende Kontaktstörung vieler Menschen mit der Umwelt, eine Kluft zwischen sich und der Welt.
Auf Paul Schinners Zeichnung erahnt man den Oberkörper eines Menschen.
Andeutungsweise lässt sich auch ein Arm erkennen, quer vor sich über den Körper geführt, wie eine Barriere („bis hier her und nicht weiter“! – könnte man sagen).
Es ist ein Torso eines menschlichen Oberkörpers, d.h. er ist nicht vollständig ausgeführt, sondern vielmehr zusammengekürzt, konzentriert auf das Wesentliche.
Dieser Oberkörper ist auf den ersten Blick nur ein Bruchstück, doch er steht symbolhaft für das Ganze.
Ein solches Zusammenballen in den Kernpunkten, ein Weglassen alles scheinbar Überflüssigen, das sind typische Wesenszüge von modernen Kunstwerken.
Die traditionelle Kunst erzählte breit ausgemalte Geschichten, die Moderne kürzt ab, sie „abstrahiert“ das Geschehen auf seinen innersten Kern.
Dieser Oberkörper hat z.B. keinen Kopf, er ist „kopflos“ in mehrfachem Wortsinn.
Einen Kopf braucht es hier auch nicht, denn es geht überhaupt nicht um das Denken, es geht vielmehr einzig um das Fühlen. Das Denken ist im Kopf zu Hause, das Fühlen im Herzen. Dies gilt, auch wenn die moderne medizinische Wissenschaft inzwischen glaubt, nahezu alle unsere Lebensvorgänge im Gehirn stattfinden bzw. von dort aus gesteuert werden. Doch landläufig gilt wie vordem: Unsere ganze Gefühlswelt, das Empfinden von Freude und Angst, von Glück wie von Unglücklichsein, glaubt (oder besser gesagt „fühlt“) man nachwievor im Herzen angesiedelt.
Darum beschränkte sich Paul Schinner auf das Wesentliche und zeichnete den Brustkorb eines Menschen. Doch schauen wir mal näher hin, wie er ihn zeichnete. Um anatomische Richtigkeit ging es ihm nicht, das ist hier Nebensache.
Es geht vielmehr darum, wie dieser Körper als Ganzes dasteht, wie sich Innen und Außen verhalten, wie sein Inneres aussieht und wie sein Äußeres.
Die Binnenzonen dieses Körpers sind insgesamt recht hell gehalten, der Bleistift ist meist mit den Fingerkuppen weich verwischt. Das drückt hohe Sensibilität und Verletzlichkeit aus. Im oberen Brustansatz aber und in der Herzgegend, da wo es bekanntlich drückt, wenn man sich in Bedrängnis fühlt, dort kommt es zu einer starken Verdunkelung aus kurzen nervösen Strichen. Das ist eine unserer bekannten Schwachstellen.
Der Körperumriss jedoch, die Außenhaut, wirkt über große Strecken wie starr. Pechschwarz sind die Bleistiftstriche über- und ineinander verdichtet. Die Außenhaut wirkt wie gehämmert, wie ein Harnisch aus geschmiedetem Metall. Dieser schottet nach außen hin ab, will scheinbar sagen: „Rühre mich nicht an!“, denn mein Inneres ist verunsichert, überfordert, kann der andrängenden Außenwelt vielleicht nicht standhalten, braucht Schutz.
Und dann gibt es auf der Zeichnung noch diese großspurigen, frei umher schießenden Striche, kreuz und quer jagen sie durch das Bild. Vielleicht sind sie konkreter Ausdruck für die zum Zerreissen angespannte Kluft zwischen der Innen- und Außenwelt dieses Menschenkörpers; Peitschenhiebe, Risse, Funkenflugbahnen, Blitzentladungen.
„Raue Schale – weiches Herz!“ So könnte man – vereinfacht gesagt - diese Zeichnung auch nennen. Und mit diesem Spruch möchte ich zum Schluss kurz auch noch auf den Künstler selbst zu sprechen kommen. Er ist 75 Jahre alt und kürzlich erst für sein Lebenswerk mit einem renommierten Preis ausgezeichnet worden. Paul Schinner ist vor allem Bildhauer, bevorzugt für Metall und Stein. Wenn er einen Bleistift in die Hand nimmt, dann denkt und fühlt er damit zwar ähnlich wie mit Hammer und Meißel, aber um einige Tonarten feinfühliger. Was herauskommt sind aber immer wieder ungemein kraftvolle Bilder, die einen magisch in ihren Bann ziehen.
Mag diese Zeichnung auch „Rühre mich nicht an!“ heißen. Am Ende steht man davor und glaubt zu spüren, dass darin eine Kraft steckt, die einen direkt anspricht und das Gegenteil von „Rühre mich nicht an“ sagt, nämlich: „Ich lasse dich nicht mehr los!“ Friedrich Fuchs